Rezension: Der Fall Gurlitt – Ein Gespräch zwischen Koldehoff, Oehmke und Stecker

Broschiert: 144 Seiten
Verlag: Nicolaische Verlagsbuchhandlung; Auflage: 1 (28. April 2014)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3894798637
ISBN-13: 978-3894798635

Dieses Buch ist quasi die Aufzeichnung einer Diskussionsrunde im Januar 2014 über den „Fall Gurlitt“. Die Mitwirkenden:

Stefan Koldehoff hat Kunstgeschichte, Germanistik und Politikwissenschaft studiert. Er arbeitete freiberuflich als Journalist für die FAZ, taz und den WDR. Ab 1998 war er drei Jahre lang Redakteur, dabei zuletzt stellvertretender Chefredakteur, des Kunstmagazins „Art“ in Hamburg. 2001 wechselte er auf eine Redakteursstelle beim Deutschlandfunk. In den folgenden Jahren veröffentlichte er als Autor zahlreiche Sachbücher zum Themenfeld Kunstmarkt, Kunstfälschung und Kunstgeschichte.

Ralf Oehmke studierte nach einer kaufmännischen Ausbildung Rechtswissenschaften an der Universität Köln und promovierte 1990 bei Prof. Ulrich Hübner mit einer Arbeit über Entschädigungsfonds. Er war mehrere Jahre in verschiedenen Funktionen im Wirtschafts- und Immobilienrecht tätig. Als Rechtsanwalt war er unter anderem mit der Durchsetzung von Restitutionsansprüchen aus Enteignungsmaßnahmen auf dem Gebiet der früheren Deutschen Demokratischen Republik befasst. Er berät verschiedene Institutionen und Privatpersonen in kunst- und wettbewerbsrechtlichen Fragen.

Raimund Stecker studierte nach einer Buchbinderlehre in Bochum, Hamburg und Florenz Kunstgeschichte, Philosophie, Neue Geschichte und Publizistik. Er schrieb als freier Mitarbeiter für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und verschiedene internationale Kunstzeitschriften. Nach seiner Promotion über Barnett Newmans „The Stations of the Cross“ an der Ruhr-Universität Bochum leitete er 1993 bis 2000 als Direktor den Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf. Von 2000 bis 2005 war er Gründungsdirektor des Arp-Museums Bahnhof Rolandseck. Anschließend entwickelte er sowohl künstlerisch wie architektonisch und bauhistorisch Museumsprojekte in Deutschland und im Ausland. Von 2009 bis 2013 war er künstlerischer Direktor des Lehmbruck Museums in Duisburg. Zurzeit arbeitet er unter anderem eine Privatsammlung zur Russischen Avantgarde auf, betreibt Wissenschaftsmanagement für verschiedene Privatsammlungen und ist verlegerisch sowie publizistisch tätig. Seit 1986 lehrt Stecker als Honorarprofessor für Kunstgeschichte an der Kunstakademie in Münster.

Tragisch daran finde ich die Tatsache, dass dieses Buch nur wenige Tage vor dem Tod der Hauptperson im „Fall Gurlitt“ erschienen ist: am 06. Mai 2014 starb Cornelius Gurlitt.

„Bei Herrn Gurlitt dürfte noch eines hinzukommen – nämlich die Frage einer Rechtsnachfolge in fünf, zehn oder zwanzig Jahren; je nachdem, wie es das Schicksal mit ihm meint…“ Zitat Seite 129

Inzwischen ist sicher, dass es das Schicksal nicht so gut mit Cornelius Gurlitt meinte. Und wenn man die Diskussion in diesem Buch so verfolgt, dann könnte man auch mutmaßen, dass die Behandlung, die ihm seit Februar 2012 durch unsere rechtsstaatlichen Organe zuteil wurde, einen nicht unerheblichen Anteil daran hat.
Man möchte fast von einem Justizskandal sprechen, wenn man bedenkt, wie mit diesem Mann umgegangen wurde. Es wurde nicht einmal davor zurückgeschreckt, Herrn Gurlitt „unter Betreuung zu stellen“, was früher allgemein als „Entmündigung“ bezeichnet wurde.
Ohne wirkliche rechtliche Grundlagen wurden Persönlichkeitsrechte verletzt und schließlich ein Medienaufriss enormen Ausmaßes gestartet, bei dem der echte Wahrheitsgehalt der Meldungen auch sehr in Frage zu stellen ist. Da war plötzlich von unglaublichen Werten die Rede und alles wurde mit dem Negativ-Stempel des Nationalsozialismus versehen, völlig ohne differenzierte Betrachtung der Kunstwerke. Dabei war der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt selbst ein Mann mit jüdischen Wurzeln und er hatte somit unheimliches Glück, die schlimmen Verfolgungen im 2. Weltkrieg so schadlos überstanden zu haben.
Sein Sohn Cornelius war damals noch ein Kind und niemand vermag zu sagen, was er überhaupt über die Herkunft der vielen Kunstwerke in seinem Besitz wusste. Überhaupt wissen wir viel zu wenig über diesen Mann, der plötzlich in die Öffentlichkeit gezerrt wurde und durch den die Diskussion über „Raubkunst“ entfacht wurde. Es scheint, als hätte sich niemand die Mühe gemacht, mit ihm zu reden. Es wurde beschlagnahmt, veröffentlicht und verurteilt: verurteilt aber nie im wirklichen rechtlichen Sinn, denn bis zu seinem Tod war Gurlitt unschuldig und das Verfahren gegen ihn nicht abgeschlossen.

Die Diskussion ist durchaus anspruchsvoll und ich musste stellenweise schon konzentriert lesen, um das „Anwaltsdeutsch“ zu verstehen.
Es ist interessant und ich habe viel über „Raubkunst“, „Beutekunst“ und „entartete Kunst“ erfahren, diese Begriffe konnte ich vorher nicht wirklich voneinander trennen, da ich mich noch nie näher mit der Thematik beschäftigt hatte. Die rechtlichen Grundlagen werden angesprochen und die aktuelle Situation, mit der alle Beteiligten (Museen, Kunstsammler, frühere Eigentümer, etc.) zu kämpfen haben, wird beleuchtet. Es werden auch Lösungsansätze diskutiert, aber es ist fraglich, ob es jemals dazu kommen wird, dass zum Beispiel ein Fonds eingerichtet wird, um solche Fälle auch in Zukunft gerecht abwickeln zu können.
Was bei der ganzen Diskussion um große Werte oft vergessen wird, das ist die eigentliche Geschichte der Opfer: die Tragödien, die hinter so manchem Kunstwerk stecken. Viele Erben von früher Enteigneten wollen ja einfach nur erreichen, dass neben einem Bild in einem Museum ein Schild angebracht wird, das auf die Herkunft verweist.
Die Befürchtung, dass viele Werke allerdings zurück in Privatbesitz gelangen könnten – und damit der Öffentlichkeit entzogen würden – wird aber wohl dafür sorgen, dass auch in Zukunft nicht groß darauf gedrängt werden wird, die Besitzverhältnisse zu klären. Vielen dürfte es ganz recht sein, dass der „Fall Gurlitt“ aus den Medien mehr oder weniger wieder verschwunden ist…

Fazit: Anspruchsvoll zu lesen und stellenweise durch die aktuellen Ereignisse leider schon etwas überholt, aber durchaus interessant und informativ.

Bei Daggis Buch-Challenge 2014 hake ich hiermit Punkt 40 ab.