Lebt von Orkun Ertener – Meine Rezension…

Gebundene Ausgabe: 640 Seiten
Verlag: FISCHER Scherz; Auflage: 1 (21. August 2014)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3651013677
ISBN-13: 978-3651013674

Über den Autor:
Orkun Ertener, geboren 1966 in Istanbul, lebt seit 1970 in Deutschland. Seit 1994 arbeitet er als Autor vorwiegend fürs Fernsehen und wurde für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Adolf-Grimme-Preis für »KDD – Kriminaldauerdienst«. Die von Ertener entwickelte Serie, die auch international Beachtung fand, wurde von der Kritik als herausragend wahrgenommen und einhellig bejubelt. Der Autor lebt mit seiner Familie in Köln.

Der Klappentext:
Eine einzige Begegnung nimmt Can Evinman alle Gewissheiten. Und bedroht seine Identität. Vielleicht auch sein Leben …

Die Arbeit an der Autobiographie der Schauspielerin Anna Roth konfrontiert Ghostwriter Can Evinman mit seiner eigenen Lebensgeschichte: Seine Eltern kamen nicht bei einem Unfall ums Leben, wie er immer dachte. Sie wurden Opfer eines Verbrechens.
Gemeinsam versuchen Can und Anna herauszufinden, was vor fünfunddreißig Jahren wirklich passiert ist. In Thessaloniki werden sie fündig: Das Schicksal ihrer beider Familien ist eng mit einem einzigartigen Kapitel der neueren Geschichte verwebt.
Doch jemand beobachtet jeden Schritt ihrer Nachforschungen. Und will mit aller Macht verhindern, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommt.

Die Geschichte:
Can Evinman ist im Heim und bei Pflegefamilien aufgewachsen, nachdem seine Eltern von einer Wattwanderung nicht mehr zurückgekehrt sind. Seine Vergangenheit ist kein Thema, über das er gerne spricht. Nicht einmal seine Frau Sandra weiß Genaueres über Cans Kindheit und Jugendzeit.
Doch dann tritt Anna Roth in Cans Leben und mit ihr auch noch eine andere Frau: Ellen Reichert. Ellen macht Can mit einem uralten Mann bekannt – und mit dessen brisanter Lebensgeschichte, die in schicksalhafter Weise auch mit seiner eigenen verbunden scheint. Was hat dieser Mann mit dem Tod von Cans Eltern zu tun?
Ellen ködert Can mit alten Fotografien und lockt ihn schließlich nach Griechenland. Anna begleitet ihn, denn auch die bekannte Version ihrer Vergangenheit hängt an einem seidenen Faden… Bald ist nichts mehr so, wie es zunächst schien – und Can und Anna sind in größter Gefahr!

Meine Meinung:
Zunächst hatte ich einige Anlaufschwierigkeiten mit Orkun Erteners Schreibstil: der Sinn der ersten Sätze der teils recht kurzen Kapitel erschloss sich mir oft erst im weiteren Kontext. Als ich mich schließlich daran gewöhnt hatte, lernte ich dieses Stilmittel schnell zu schätzen und ich entwickelte ein gewisses Gefühl von Sorglosigkeit, so nach dem Motto: es wird sich alles irgendwann aufklären.

Und an Aufklärung mangelt es diesem Buch sicher ganz und gar nicht. Ein gewisses Interesse an geschichtlichen Zusammenhängen sollte man allerdings schon mitbringen, sonst könnte man einige Passagen als störende Längen empfinden. Es steckt enorm viel Recherchearbeit und Wahres in dieser Story, vor allem erfahren wir viel über das Schicksal jüdischer Türken im Zweiten Weltkrieg und über die Glaubensgemeinschaft der „Dönme“.

Verpackt ist dieses ganze Geschichtswissen in einen spannenden Thriller, in dem der Autor seinen Protagonisten oft kaum noch Zeit zum Atemholen lässt. Stellenweise gleicht die Geschichte einer wilden Schnitzeljagd über Landesgrenzen hinweg: heute Türkei, morgen Frankreich, übermorgen Griechenland. Can und Anna kommen viel herum und glücklicherweise haben sie ausreichende Mittel, um ihre Spurensuche zu finanzieren.

Orkun Ertener hat unglaublich lebendige Charaktere geschaffen und lässt den Leser so hautnah an deren Emotionen teilhaben, dass man einfach mitfühlen muss. Man spürt die Zerrissenheit, Ausweglosigkeit, die Angst und die Ungewissheit, in der sich Can oft befindet.
Interessant ist auch, dass die „Bösewichte“ in dieser Geschichte meist betont harmlos daherkommen, aber im Hintergrund ist trotzdem das ganze Ausmaß ihrer Handlungen zu spüren und wirkt umso erschreckender.

Den Aufbau der Geschichte würde ich als geschickt gewebtes Spinnennetz beschreiben: ständig kommen neue Verbindungen hinzu, die Story wird dichter, es werden Fäden von der Gegenwart in die Vergangenheit gesponnen. So manches Opfer verfängt sich in diesem Bauwerk, doch wenn man sich im Netz bewegen kann, kommt man auch irgendwann ans Ziel. Die Frage ist nur: will man dort wirklich hin? Bei Can spürt man oft die Kluft zwischen Neugier und verzweifelter Abscheu.

„Lebt“ würde ich als anspruchsvollen Roman bezeichnen, in dem sehr viel Geschichte, Spannung, Action, aber auch Emotionen stecken. Immer, wenn man denkt, man wüsste, wie alles zusammenhängt, wird man aufs Neue überrascht. Alles scheint irgendwie verbunden zu sein, es gibt keine unwichtigen Nebenfiguren.
Eigentlich wünschte ich fast, es gäbe eine Fortsetzung mit der sympathischen Polizistin Sybille Mägert, mit Can und seiner netten Familie, mit Anna und ihrem Sohn Max und den vielen anderen Charakteren, deren Geschichte ich sehr gerne gelesen habe.

Fazit:
Ein so dicht gewebter Roman, der anmutet wie ein großes Spinnennetz, in dem kein Faden ohne Sinn ist. Can erkundet seine Vergangenheit und deckt gleichzeitig das Schicksal so vieler anderer Menschen auf, die alle irgendwie verbunden sind. Actionreich, spannend, informativ, klug durchdacht und voller glaubwürdiger Emotionen!

Bewertung:
4,5 Pfoten
5pfoten